DER WANDERNDE GEIST

Wandernder Geist – vom Fluch der Flucht aus dem Hier und Jetzt
Dieser Text erschien in gekürzter Form am 16. März im Nürnberger Blitz, dem samstags erscheinenden Wochenend-Ableger der Nürnberger Nachrichten

Die Gedanken sind frei: Doch dürfen sie deshalb machen, was sie wollen? Wohin führt der ewig wandernde Geist, der nie bei der Sache bleiben kann? Und was kann man dafür tun, konzentriert und bei sich zu bleiben?

Die Gedanken sind frei. Wer das hört, fängt wahrscheinlich zu summen an. Es ist ein uraltes Lied, wer der Melodie ein bissel folgt, dem kommt auch der Text (wieder) in den Sinn: „… wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei: die Gedanken sind frei“. Um 1780 wurde der Text – der aus dem 13. Jahrhundert stammt – auf Flugblättern verteilt. Freie Gedanken, das ist doch wunderbar. Kein Herrscher, kein Feind, niemand kann diese innerliche Freiheit in Besitz nehmen.

Doch die frei umherschweifenden Gedanken können schnell zum Fluch werden: Der wandernde Geist, das (ab)schweifende Denken. Man gerät leicht vom Hundertsten ins Tausendste – und das heute mehr denn je, wo Handy, Laptop, iPad und andere digitale Medien uns mit fröhlichen Botschaften fluten, unsere Gedanken einfangen und am Ende jedes konzentrierte Tun verhindern. Neurowissenschaftler und Psychologen beschäftigen sich seit Jahren mit dem Phänomen. Matthew Killingsworth und Daniel Gilbert von der Harvard University, die in einer in „Science“ im November 2010 veröffentlichen Studie iPhone Daten auswerteten, haben 2250 Erwachsene analysiert. „Die Autoren beenden ihre Studie mit folgendem Fazit: Der Geist des Menschen ist ein wandernder Geist und ein wandernder Geist ist ein unglücklicher Geist. Die Fähigkeit über das nachzudenken was gerade nicht passiert, ist eine kognitive Leistung die mit emotionalen Kosten verbunden ist.“

Sabine Weiskopf: „Ordnung ist Liebe“ (c) Budig

Und Thomas Metzinger, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Mainz behauptet sogar, das „Nicht-bei-sich-sein“ vom Glücklichsein abhält: „Wer den Kontakt zur Gegenwart verliert, weil er gedanklich immer wieder in die Zukunft und die Gegenwart abschweift, besitzt ganz allgemein eine schlechtere Stimmungslage als ein Mensch, der seine Aufmerksamkeit stärker in der Gegenwart halten kann.“ Dabei fängt alles mit der Jagd nach Glücksgefühlen an. Ernst Pöppel, emeritierter Professor für klinische Psychologie, hat sich mit dem Phänomen wissenschaftlich auseinandergesetzt: „Gegenwart“, das sei für Menschen allgemein ein Zeitraum von wenigen Sekunden. Danach verlangt der Geist nach Neuem. Denn alles was auf ihn wirkt, essen, trinken, Bilder, News, wird vom Gehirn mit einer Dopamin-Ausschüttung belohnt. Dopamin, ein Neurotransmitter des zentralen Nervensystems, im Volksmund „Glückshormon“ genannt, macht uns zu Dopaminjunkies, stets unterwegs zum nächsten geilen Gefühl. Das alles ist hinreichend wissenschaftlich belegt.

Auch die Folgen sind messbar: Schwindende Leistungsfähigkeit – und: unglücklich sein, ob so viel sinnentleertem Zeitvergehen. Die Gegenentwürfe sind durch angenehme Begriffe besetzt, die auf den ersten Blick alle etwas wenig Greifbares vermitteln: „Entschleunigen“, „nimm Dir Zeit“, „lebe im Augenblick“, und als Oberbegriff: „Achtsam werden“. So heißt ein Wegbereiter von Matthias Ennenbach, Arzt und Psychotherapeut und Begründer der „Buddhistischen Psychotherapie“. Er rückt das Phänomen in einen größeren Zusammenhang und meint, dass eine achtsame Selbststeuerung Angst, Depressionen, Schmerz, Wut, Grübelei und sogar Beziehungsproblemen entgegenwirkt. Er vergleicht die permanente Eintrübung des menschlichen Geistes, mit dem Flockenwirbel in einer gerade heftig geschüttelten Schneekugel; sein erster Tipp, wenn innendrin alles drunter und drüber geht: „Ruhe bewahren“. Die Lehrfibel zeigt Schritt für Schritt Wege zu mehr innerer Ruhe und besserer Konzentration.

Ein Besuch bei Sabine Weiskopf in ihrem Wohnatelier in Fürth weist einen Weg, innere Unruhe zu beseitigen. Weiskopf, ursprünglich gelernte Übersetzerin, hat nach Ausbildungen zur Reiki-Lehrerin und Kinesiologin einen überraschenden Zugang zu mehr Selbstliebe und Ruhe gefunden: Ihr Lebensweg brachte es mit sich, dass sie eine Zeitlang in Haushalten putzte. Dabei entdeckte sie ihre außerordentliche Fähigkeit zu ordnen und das Schöne wieder herzustellen. „Ein Mensch, der den Zustand seines Lebens, seines Wohnumfeldes als Chaos empfindet, trägt das in sich. Der erste Schritt ist, es ändern zu wollen“, beschreibt sie ihre Entdeckung. „Ein Kind im Heranwachsen, ein Mensch, dessen Partner ausgezogen ist und der sich Teile der Wohnung nicht (mehr) aneignen kann: in deren Leben ist die Unordnung eine Aussage. Wir beseitigen sie, indem wir das Stresszentrum aufdecken und uns – gemeinsam – Schritt für Schritt in eine neue Ordnung arbeiten“, schildert sie ihre Arbeit, die sie auf ihrer Homepage unter dem Namen „die wüste elfe“ (www.die-wueste-elfe.de Tag der offenen Tür am 16.3. und 6.4, Mathildenstraße 21) anbietet. „Ich bin nicht dieses Chaos, in dem ich stecke“ lautet eine ihrer Herzensanliegen.

Othmar Franthal. Zen Meister im Meditations-zentrum Diefurt im Altmühltal.                                                                                                  (c) Meditationshaus Dietfurt

Wir fahren in das Franziskanerkloster nach Dietfurt: Für Othmar Franthal, Zen-Meister und Leiter des Meditationshauses St. Franziskus im Altmühltal, ist der wandernde Geist nur eine Neben-Sache im Konzert des großen Ganzen. Trotzdem wirken die Methoden der geistigen Versenkung, der inneren Klärung, die man in Dietfurt u.a. im einwöchigen Zen-Einführungs- oder Aufbaukurs erschnuppern kann, auf viele Kursbesucher bereits wie eine Oase in der Wüste. „Viele unserer Gäste kommen kurz vor oder nach einem Burnout, nach Trennungen, schweren Krankheiten oder Erfahrungen mit dem Tod“, resümiert Franthal. In Dietfurt lernen sie unter anderem das achtsame Atmen, „jeden Atemzug wie den letzten behandeln“, so bezeichnet Franthal das. „Denn das ist es, worum es geht, das Erste und das Letzte, Ursprung und Gegenwart. Für den letzten Atemzug bereit sein, der jedem von uns bevorsteht: und dass wir versöhnt sind, wenn wir ihn tun.“ In und mit dem „Gegenwärtigen“ beginnen, „Hier“, „Jetzt“, „Nun“. Im Einführungskurs – der knapp eine Woche dauert und schweigend verbracht wird, lernen die Teilnehmer auch das Sitzen im Schweigen, Zazen genannt. „Zazen bezieht den ganzen Menschen ein. Körper, Atem und Geist werden geordnet, koordiniert und in ihrer Einheit erfahren. Wir üben Achtsamkeit in allem, was wir tun. Es wird nicht über einen Gegenstand oder ein Thema nachgedacht. Wir sitzen in einer aufrechten Haltung, ruhig atmend, wach, offen für alles, was geschieht“, so erklärt es Franthal auf der Homepage. „Wir können trainieren, bei einer Sache zu sein, so wie wir einen Muskel trainieren: Der ‚Affengeist‘ kommt zum Schweigen.“ Und es ist erstaunlich, aus der Sicht eines Laien, der hier einige Kurse verbracht hat, wie sehr das Gelernte hilfreich weiter wirkt: wie man in der Lage ist, sich tief einatmend zur Ruhe zu mahnen, manchmal sogar die schnellen Angebote für den nächsten Dopaminkick mit leichter Hand vorbeizuwinken. „Der Mensch erfährt eine Befreiung von sich selbst und findet sich in einem tieferen Selbst wieder“, so formuliert es Franthal.

 

https://www.meditationshaus-dietfurt.de/

https://www.die-wueste-elfe.de/