Die Juden von Charkov

1991 „zerbrach“ die Sowjet-Union, die Ukraine wurde selbständig. In der „Spiegel-Schicht“ bei „Maul-Belser“ lernten wir uns 1993 kennen, an den Maschinen, wo aus Umschlags- und Inhaltsseiten das Wochenmagazin „Spiegel“ hergestellt wurde. Ein Brotjob für uns. Wir – Peter Budig/Peter Roggenthin träumten von großem Journalismus und trauten uns was: Wir fuhren im März/April 1994 auf eigene Kosten in die Ukraine, nach Charkov. Wir wollten berichten, wie dort der Bau der Reformsynagoge voran ging. Wir recherchierten ohne Auftrag auf eigene Faust. Das Ergebnis ist diese Reportage, die wir 1995 an das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verkauften. Dort lag die Geschichte, bis das Magazin 1999 eingestellt wurde, ohne dass sie abgedruckt worden war.

Das Aufmacherfoto zeigt Israel Abramowitsch Ioffe, den Rabbi von Char­kov. (c) Peter Roggenthin

Eine Reportage von Peter Budig / Text und Peter Roggenthin / Fotos

Zu Israel Abramowitsch Ioffe, dem Rabbi von Char­kov, gelangt man über einen ver­wüsteten Hinter­hof. Drei Stiegen hoch im Hin­terhaus liegt seine kleine Wohnung, man geht durch die Tür und steht in der Küche, wie es hierzulande üblich ist, kein Quadratmeter wird verschenkt, denn Wohnraum ge­hört zu den knappen Gütern. Treppenhaus und Wohnung sind piccobello sau­ber, zwar blättert die Farbe von der Wand, aber die Treppe selbst liegt ausnahmsweise nicht voll Unrat. Auch hängt hier nicht dieser widerwärtige Gestank nach kaltem Män­nerschweiß in der Luft, dem man auf zahl­losen Fluren und Treppenhäusern, in öffent­lichen und privaten Toiletten, in den staat­lichen Läden und Behörden be­gegnet. Die Ukraine ist ein verfallenes Land, und Charkov, mit 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Metro­pole nach der Hauptstadt Kiew, ist eine unerhört schmutzige Stadt. Der Versuch des ehemaligen Premierministers Leonid Kutschma, sofort nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion (seit dem Re­ferendum vom 1.12.1991) per Dekret die freie Marktwirt­schaft einzuführen, ist in den Anfängen steckengeblieben. Seit Juli 1994 ist er Präsident und versucht die 5 Milliarden Schulden allein an Rußland – vor allem für Öl- und Gaslieferungen – durch verstärkte Kooperation mit dem bislang zögerlichen Westen abzubauen und die Wirtschaft anzukurbeln. Der größte Traum der meisten Menschen bleibt die Ausreise, nach Kanada, in die USA, nach Deutschland oder Israel. Von wenigen Aus­nahmen abgesehen, sind die Chancen, daß sich die­ser Traum erfüllt, gleich Null.

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