Ein Genie ohne Fortune 

Foto: Steffi Rossdeutscher/Diogenes Verlag

Der Schwabacher Klaus Cäsar Zehrer erzählt die wahre Geschichte des William James Sidis

von PETER BUDIG

2009 entdeckte der aus Schwabach stammende Autor Klaus Cäsar Zehrer den „Fall William James Sidis“: ein von seinem überehrgeizigen Vater gedrilltes Universal­genie. Dass dieser im wahren Leben keinen rechten Platz fand, hat nicht allein mit den maßlosen Ansprüchen seiner Umgebung zu tun. Die „freie Presse“ hat ebenso eine unrühmliche Rolle gespielt.

„Billy. Wir alle hier kennen deine Geschichte. Wir wissen, dass du lieber im Verborgenen bleibst. Das akzeptieren wir. … Es ist nur … Wir machen uns Sorgen. Es ist uns ein Rätsel, warum dir das Leben so schwer fällt.“ Billy – das ist William James Sidis, geboren am 1. April 1898 in Boston. Sorgen macht sich der Mathematik-Professor Norbert Wiener, heute als Begründer der Kybernetik berühmt. Er wäre vielleicht einer gewesen, der ihn hätte verstehen können. Wie Billy galt er als Wunderkind, übersprang Schulklassen, sprach über zehn Sprachen, war schon als Kind Universitätsstudent in Harvard und erlangte die höchsten mathematischen Weihen wie im Vorübergehen. Doch dem Einsamen bleibt ein Platz in der Welt verwehrt.

Fast 600 Seiten dauert es, bis Zehrers Held, er ist in seinen Dreißigern, an diesem Punkt im Leben angelangt ist, wo er am liebsten für einen Hungerlohn im Keller einer Versicherung sitzen und Zahlen­kolonnen addieren will. Sonst verlangt er wenig vom Leben.  Eine winzige Wohnung und als Ausdruck höchsten privaten Vergnügens, gelegentlich eine Straßenbahnrundfahrt durch die Stadt. Sein Leben, urteilt er selbst, sei das einer Marionette. Jeder darf an den Fäden ziehen, der Vater, die Mutter, die Öffentlichkeit, die Journalisten ganz besonders,  jeder zerrt an ihm herum und  darf seine Wünsche über ihn stülpen und ihn für enttäuschte  Erwartungen grausam strafen. Was für ein gründlich verpfuschtes Leben, von dem Zehrers Roman erzählt, ein Roman, der sich an die Fakten einer wahren Geschichte anschmiegt.

Es ist das Amerika der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Zehrer erzählt es mit großer Eindringlichkeit und viel detaillierter Sachkenntnis. Man findet sich wieder, in den Geschichten großer literarischer Vorbilder, unter John Steinbecks armen Leuten, in Upton Sinclairs elenden Fabriken, im Milieu der jüdischen Emigranten eines Mendel  Singer, der Hauptfigur in Joseph Roths Hiob. Wie ein verzehrendes Fieber wütet der Wahn des Patriotismus, als Amerika sich für den Eintritt in den ersten Weltkrieg bereit macht. Dazu kommt das Wüten der Epidemie, die „Spanische Grippe“ genannt wurde. 50 Millionen Menschen fallen der geheimnisvollen Krankheit weltweit zum Opfer, deren wahres Ausmaß tunlichst totgeschwiegen wird. All das fängt Zehrer ein und entfaltet Schritt für Schritt für Schritt das Leben eines Heranwachsenden, der durch Begabung, Bildung, aber auch Rechthaberei, Aufmüpfigkeit, Sturheit und einen vollkommenen Mangel an Empathie von seinen Mitmenschen getrennt ist. Er entwickelt einen magischen Sog, der einen in die Geschichte zieht.

Dabei begann alles recht hoffnungsvoll: Boris Sidis, einem von der zaristischen Polizei verfolgten russischen Juden, gelingt 1887 die Emigration in die USA. Mit fanatischem Eifer arbeitet und bildet er sich nach oben, studiert Medizin, entdeckt die ganz junge Wissenschaft von der Seele des Menschen für sich. Schon beim Vater zeigen sich neben grenzenlosen Arbeitseifer und der enormen Begabung jene Züge fanatischen Überzeugungshandels, die dem Sohn das Genick brechen werden. Sein Kampf gegen Freuds Thesen etwa geht weit über einen wissenschaftlichen Zwist hinaus, sein Pazifismus trägt schon wieder kriegerische Züge.  Mit gnadenlosem Eifer widmet er sich der Erziehung seines Erstgeborenen. Nicht das Wohl des Kindes steht im Vordergrund, sondern der eiserne Wille, die Überlegenheit seiner erziehungswissenschaftlichen Theorie an seinem Beispiel für alle Zeiten zu beweisen: Er will aufzeigen, dass mit der Sidis- Methode jeder zum Genie herangebildet werden kann.

Doch so leicht dem jungen Billy das Lernen fällt, so sehr er im Kindesalter Prüfungen brillant besteht, Schulen im Eiltempo hinter sich lässt, sich jedes Detail merken kann, so sehr zeigt sich früh die Schattenseite des geistig Enteilten: Er wächst ohne Freunde auf, praktisch jeder persönliche Kontakt zu Gleichaltrigen misslingt. So faszinierend seine monströsen logischen  Ausflüge auch sein mögen, so desaströs wirkt sich der Mangel an Mitgefühl aus. Zu allem Übel wird dieses hochbegabte Kind früh von der Presse als Wunderknabe entdeckt und in die Öffentlichkeit gezerrt. Wie ein Monstrum soll er seine Fähigkeiten vorführen. Als er sich zunehmend verweigert, widerspricht, als er auch noch den Kriegsdienst verweigert und  dafür ins Gefängnis muss, wendet sich die Öffentlichkeit gegen ihn und erklärt ihn für verrückt. Und dann auch noch die Liebe, die einzige seines Lebens, die ihm völlig misslingt. Bei Antikriegsprotesten lernt er die kommunistische Aktivistin Martha Foley kennen. Eigentlich hat er sich schon als Junge geschworen, das „elende Koitieren“ niemals auch nur in Betracht zu ziehen. Als er vor dem Wunder der Liebe steht, versaut er sich alles durch sein plumpes Verhalten. Nebenbei: Martha Foley hat 1931 mit ihrem Mann Whit Burnett das literarische Magazin „Story“ gegründet. Das erste Heft erschien in Wien. 1944 brachte es die erste Veröffentlichung einer  Kurz­geschichte des jungen Charles Bukowski.

Zehrer, 1969 in Schwabach geboren, wo er die ersten 20 Jahre verbrachte, verließ nach dem Abitur  Franken. Er studierte Kulturwissenschaften in Lüneburg, promovierte über den Humor Robert Gernhardts in Bremen. Der wird zu seinem Vorbild, eine Art geistiger Ziehvater, gemeinsam geben sie eine Gedichtsammlung heraus. Seit Jahren lebt Zehrer in Berlin. „Ich wollte immer etwas tun“, erklärt er, „womit ich mich ausdrücken kann, wovon ich ganz und gar überzeugt bin. Eine musikalische Begabung habe ich nicht, es blieb das Schreiben.“ Die Geschichte vom scheiternden Genie Billy Sidis hat Zehrer auch gepackt, weil dieser Idealist bedingungslos seinen Überzeugungen folgt: „Ich habe mich entschieden, Befehlen niemals zu gehorchen. Wenn Befehle erteilt werden, geht’s immer um eine üble Sache. Gute Taten muss man nicht befehlen, die tut man aus Über­zeugung“  – so lautet ein Credo des William Sidis. Nicht Pragmatismus, nicht Vorteils­nahme, nicht Feigheit bringen ihn auf einen anderen Weg. Zehrer heute: „Ich las diese Geschichte, schrieb einen längeren Artikel darüber für den Deutschlandfunk und spürte: Es ist an der Zeit, sich an etwas Größeres zu wagen.“ „Das Genie“ ist eine sehr gelungene biografische Erzählung, bleibt erstaunlich dicht über fast 650 Seiten, ein mehr als gelungener Debütroman.

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie. Diogenes Verlag, Zürich 2017. 25 Euro

 Zehrer liest im Raum Nürnberg:

Am 18.10. 2017 in Roth „Genniges Bücher“, Hauptstr. 28, 19.30 Uhr

Am 19.10.2017 in Zirndorf, „Bücherstube Zirndorf“, Nürnberger Straße 32, 19.30 Uhr
Am 20.10.2017 in Nürnberg, „Bücher Raum“, Ludwig-Feuerbach-Str. 68, 19.30 Uhr